Wer war Nikodemus?

Ergebnisse einer Evangelien-Recherche von
Peter-Joachim Knörrich, Göttingen

Im Gegensatz zu manch anderer Gestalt im Evangelium sind über Nikodemus ganz wenige Aussagen gemacht; es finden sich nur drei Stellen, alle im Johannes-Evangelium: das Gespräch in der Nacht mit Jesus Christus (3.1-22), eine Äußerung in Hohen Rat der Juden (7.40-52), die Mitwirkung bei der Grablegung (19.38-42). Mit seinem Namen wird ein apokryphes Evangelium verbunden, das aber ebenso wenig direkte Auskunft über seine Person gibt wie man im Lukasevangelium etwas über Lukas findet. In den Legenden findet sich kaum etwas über ihn - er wirkt mit bei dem Begräbnis des ersten christlichen Märtyrers Stephanus.

Da über Nikodemus im Evangelium nichts im Sinne einer "Biographie" zu lesen ist und auch seine Wesenszüge nicht direkt zur Sprache kommen, ist man genötigt, um ein Bild von dieser Gestalt zu gewinnen, den Blick auf sein Wirken zu richten und die Motive im Evangelium zu verfolgen, die mit ihm zusammenhängen. Während beispielsweise Petrus in einer ganzen Reihe von einzelnen aussagekräftigen Situationen beschrieben wird, die ein Bild seiner Persönlichkeit zeichnen, muss man für Nikodemus vieles zwischen den Zeilen und im Umfeld zu lesen versuchen. Ist auch das für ihn charakteristisch?

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Wo wurde Nikodemus erwähnt

Der Name Nikodemus entstammt dem Griechischen und lautet übersetzt "Sieger über das Volk" - ein in der Zeit der Entstehung des Christentums verbreiteter Name. Heute tritt er in der Namengebung nicht mehr auf im Gegensatz zu dem gleichbedeutenden "Nikolaus". So verwundert es nicht, dass nur noch wenige etwas mit diesem Namen anfangen können und es kaum bekannt ist, dass der Träger dieses Namens im Johannesevangelium eine Rolle spielt. Will man auf die Frage eine Antwort finden, was diese Gestalt dem Nikodemus-Werk als Namenspatron bedeutet, so ist es nötig, zunächst ihrem Auftreten im Johannesevangelium nachzugehen:

Das erste Mal erscheint Nikodemus im Anschluss an die Tempelreinigung (3.1-22). Des Nachts tritt er an Jesus Christus heran mit den Worten "Meister, wir wissen: du bist von Gott gekommen, ein Lehrer. Niemand vermag die Zeichentaten zu tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist." Er wird als ein Führer der Juden aus dem Kreis der Pharisäer bezeichnet. Diese Stellung klingt in dem "wir wissen" auch mit, die ganze Sicherheit desjenigen, der die Schriften kennt - heute würde man sagen, des arrivierten Wissenschaftlers. Die Antwort Jesu "Wer nicht von oben neu geboren wird, vermag das Reich Gottes nicht zu schauen" muss an dieser Sicherheit gerüttelt haben. Das Reich Gottes war gerade ein zentraler Lehrgegenstand der Pharisäer. Und so kann man auch in der folgenden Frage des Nikodemus eine gewisse Verunsicherung hören - mit einer offenen Frage tritt er aus der fraglosen Selbstsicherheit des allwissenden Gelehrten heraus: "Wie kann ein Mensch geboren werden, der alt ist?"

Die nächste Antwort Jesu spricht vom erneuten Geborenwerden aus Wasser und Lufthauch statt aus dem Fleisch und löst eine dritte, ganz offene Frage bei Nikodemus aus: "Wie kann das geschehen?"

Nun wird demjenigen, der sein Wissen aus den Schriften hat, ein Wissen aus der eigenen Anschauung entgegengehalten, das Irdisches und Himmlisches umfasst (Niemand ist in den Himmel aufgestiegen, er sei denn vom Himmel herabgestiegen: der Sohn des Menschen). Dann entfaltet sich eine Lehre von Christus, in deren Zentrum der Satz von der Liebe Gottes zur Welt steht: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe.

Ein zweites Mal tritt Nikodemus im Hohen Rat auf, als seine Kollegen sich wütend über den Volksverführer Jesus auslassen (7.40-52). In diesen Tumult hinein fragt er: "Richtet unser Gesetz jemanden, bevor man ihn gehört hat und erkennt, was er tut?" Diese Äußerung erforderte in der emotionalisierten Stimmung seiner Umgebung Mut. Nikodemus erweist sich damit als ein unabhängig urteilender selbständiger Mensch, der aus dem "Wir" der Gruppe herausgetreten ist. Der in seinem Namen enthaltene Sieg über das Volksmäßige wird offenbar.

Ein letztes Mal findet sich Nikodemus bei der Grablegung am Karfreitag ein, als er die für die jüdische Bestattung vorgesehenen aromatischen Kräuter Myrrhe und Aloë bringt (19.38-42). Der Pharisäer Nikodemus und der Ratsherr Joseph von Arimathia sorgen für eine ehrenvolle Bestattung eines zum schimpflichsten Tode Verurteilten. Dies ist eine Ungeheuerlichkeit von Seiten zweier Männer aus eben jener Führerschaft der Juden, die diese Verurteilung zu verantworten hat. Mit der Sprache ihrer Taten widersprechen sie einerseits öffentlich dem Urteil des Gremiums, dem sie angehören, und bringen andererseits zum Ausdruck, dass der Verstorbene ein Ehrenbegräbnis verdient. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass die medizinische Wirkung dieser Kräuter den Zerfallsprozess des Leibes fördert und so der fast schon zu Asche zerfallene Leib Jesu Christi bei dem Erdbeben am Ostersonntagmorgen in die Erde aufgenommen werden konnte. Durch die 100 Pfund Kräuter, die Nikodemus herbeibrachte, trägt er wesentlich dazu bei, dass die Auferstehung Christi möglich wurde.

Wie erwähnt, gibt es unter dem Namen Nikodemus-Evangelium eine apokryphe Schrift, die in sich aus zwei selbständigen Teilen besteht:

  • die Pilatusakten: sie umfassen die Darstellung des Prozesses vor dem Vertreter der römischen Staatsmacht, welcher das Spiel der Ankläger aus dem jüdischen Establishment des Tempels und der Schriftgelehrten durchschaut, doch die Kreuzigung nicht verhindern kann.
  • die sog. Höllenfahrt Christi: eine Darstellung der Geschehnisse am Karsamstag im Reich der Verstorbenen, wo der Gekreuzigte erscheint und jene aus der Herrschaft des Todes und des Teufels befreit. Man kann diese Schilderung der Höllenfahrt im Zusammenhang sehen mit der oben genannten Belehrung des Nikodemus. Hat Nikodemus inzwischen seinerseits gelernt, Dinge auszusprechen, die er weiß und über-sinnlich geschaut hat ähnlich wie die vier Evangelisten? Er tritt auf als Zeuge eines Lebens jenseits des Todes.

Nikodemus - im Blick auf Alter und Sterben

Im Blick auf die Arbeit des Nikodemus-Werkes möchte ich einige wesentliche Motive aus dem Wirken des Nikodemus aufgreifen und weiterentwickeln. Findet sich doch hier manches Wichtige für eine menschenwürdige Begleitung auf der letzten Wegstrecke im Sinne einer zeitgemäßen am Wirken Christi orientierte Alterskunde.

Das Johannesevangelium zeigt Nikodemus an drei Stationen auf seinem Weg zur Christuserkenntnis-Belehrung durch Jesus Christus, die Nikodemus durch seine Frage hervorruft - Eintreten für ein gerechtes Urteil - Mitwirkung bei der Bestattung.Der Duktus des nächtlichen Gespräches weist auf die Entwicklung eines Menschen, der aus seiner festgefügten Sicherheit herausgelöst wird. Wie oft ist ein Mensch gegen Ende seines Lebens in seiner Vergangenheit gebunden, wenn nicht gar gefesselt und auch ganz in seinem Leibe verankert. Neues hat keinen Raum mehr, und man hat den Eindruck, die Wurzeln müssen erst gelöst werden, damit er überhaupt sterben kann. So wird hier auch Nikodemus aus seiner festen Verwurzelung in seiner Gelehrsamkeit gelöst, damit er die nie gehörten Worte aufnehmen kann, die auf eine andersartige Geburt als die irdische hinweisen.

Die Frage nach einer Geburt im Alter deutet darauf hin, dass dem Sterben auch der Charakter eines Geborenwerdens eignet: sich lösen aus einer vertraut gewordenen Hülle, in der man Sicherheit und Wärme atmet, und dann aus dem gelebten irdischen Leben heraus Neues zur Erscheinung bringen. Das ist ein heute verlorener Aspekt, der im Urchristentum noch lebendig war, wenn der Todestag "dies natalis" genannt wurde - Geburt für das Schauen des Auferstandenen.

Die Lösung aus der Erdverhaftung verbindet sich mit einem anderen Motiv in diesem Gespräch, das sich in den Worten "vom Himmel herabsteigen und zum Himmel aufsteigen" ausspricht. In der doppelten Bewegung "von oben zur Erde herunter" und "von der Erde zum Himmel hinauf" weitet sich das irdische Leben über seine Grenzen von Geburt und Tod. Der Geburt geht eine Vorgeschichte im Himmel voraus - eine noch im 3. christlichen Jahrhundert (z.B. bei Origines) selbstverständliche Anschauung von einer Vorgeburtlichkeit polar zur Unsterblichkeit, welch letztere in unserer Zeit nun ebenfalls aus dem Bewusstsein schwindet. Verbanden die Pharisäer mit dem Auferstehungsglauben das Ruhen der Leiber im Grabe bis zum jüngsten Tage, so tritt uns in dem Pharisäer Nikodemus ein Mensch gegenüber, der sich von dieser starren Vorstellung zu lösen vermag, um im Tode den Keim einer neuen Geburt zu ahnen.

Indem Nikodemus einer vorschnellen Verurteilung Jesu durch die Hohepriester und Pharisäer mutig entgegentritt, wird das Motiv des Gerichts, das schon in dem nächtlichen Gespräch mit Jesus eine Rolle spielte, weitergeführt. - Es gab Zeiten, da war mit dem Tode unerbittlich verbunden die Vorstellung eines Gerichts. Der Sohn aber ist nicht gekommen zu richten, sondern zu retten. Durch die Liebe des Vaters in die Welt gesandt, bringt er ein Licht, in dem sich die Taten des Menschen selbst offenbaren. Das alttestamentarische "Auge um Auge, Zahn um Zahn" hat seine Bedeutung verloren. Im Lichte Christi kann der Mensch seine Taten so sehen lernen, dass er den Wunsch zum Ausgleich in sich entwickelt. Indem er in einem nächsten Erdenleben (von oben) neu geboren wird, kann der Wunsch zur Tat werden. Stellt ein Mensch an seinem Lebensende ausgesprochen oder unausgesprochen nicht oft die Frage nach einer Wertung seines Lebens? Wird ihm in einem solchen besonderen Augenblick Verständnis entgegengebracht (offen, lauschend, nicht selbst urteilend), ist das von Bedeutung über den Tod hinaus. So gesehen geht die Pflege im Alter nicht nur auf ein Ende zu, sondern hilft den weiteren Schicksalsweg vorbereiten und trägt zu einer Gesundung bei, die für unsere Augen unsichtbar erst jenseits des Todes wirksam wird.

Nikodemus wirkt bei der Bestattung mit

Die Versorgung der sterblichen Leibeshülle ist der letzte Akt auf Erden - weil auch dies eine Bedeutung für die weitere Entwicklung des Verstorbenen hat: bei Jesus Christus für die Auferstehung nach drei Tagen - bei jedem Menschen für das Leben nach dem Tode. Während die Ägypter den Leib zur Mumie bereiteten und damit die Grundlage schufen, dass die Menschheit ein den Tod überdauerndes Ich-Bewusstsein erringen konnte, ist seit dem Tode auf Golgatha die Erhaltung der Leibeshülle nicht mehr "gefragt", sie wird der Erde übergeben und vergeht. Aber weiterhin gilt es bei der Bestattung, den Blick auf deren Bedeutung zu richten. Schließlich hat sich in dieser Leibeshülle das ganze Leben, auch das geistige und seelische, abgespielt und seine Spuren hinterlassen. Wir sprechen von dem "letzten Liebesdienst", der neben der Bedeutung für die Trauernden im Diesseits seine Bedeutung für den Verstorbenen und seine Wege im Jenseits hat. Spürt nicht die geistige Individualität die Zuwendung in dieser Liebestat und beginnt sie nicht ihr gelebtes Leben im Blick auf den zurückgelassenen Leib wie von außen neu wahrzunehmen? Das wird mit der Tat des Nikodemus ins Blickfeld gerückt und ist verbunden mit der Aussage des Nikodemusevangeliums über die nachtodlichen Wege der Seele. So erscheint Nikodemus als ein Geburtshelfer dessen, der den Grabesbann von Alter, Krankheit und Tod löste.